Klebrige Finger

 

 

 

 

 

 

Achtung, vorweihnachtlich tiefgelegter Kalauer: Plätzchen schaffen an für Arbeitsplätze. Hm!

 

Der Tatort - Zwickau, am Stadtrand, ein bekannter Supermarkt: spätsommerlich fehlplatzierte Lebkuchenhalden aus Nürnberg und Butterberge aus Dresdner Stollen. Täter: (Groß)Bäcker, Spediteure, Lageristen und der Spezereiengroß- und Einzelhandel (alle im entzückt-entrückten Schaffensrausch, aber auch wohlverdient in Lohn und Brot). Opfer: Wir alle. Da wir Konsumlämmer keine Kostverächter sind, ist diese Kalorienschwemme zur Unzeit ja auch ok so, einerseits aber nur, wenn man es nicht allzu hungrig angehen lässt. Da ich wegen meiner lebenslang gepflegten Marzipanabhängigkeit zum Zombie der Süßwarenindustrie mutieren musste, habe ich diesen Kontrollverlust eben schlucken. Manchmal bin ich gern willenloses Opfer und Erfüllungsgehilfe der Marzipanmafia. Doch dann rütteln und schütteln mich die Geschäftemacher der künstlichen Feiertage in eine düstere, entbehrungsreiche Endzeitstimmung.

 

Ich mache mich vor Wochen vom Strandbad Planitz mit einem extragroßen Softeis im Bauch auf den Nachhause-Weg. Unterwegs will ich im Globus oder beim Aldi noch eine verführerisch süße Melone (kernarm) kaufen. Das klappt auch. Was mir aber im Wege steht, sind die Batterien an frisch gelegten Lebkuchen und heruntergefallenen Zimtsternen, in Kürze knocken mich die ersten Nikoläuse aus. Manche tragen mäßig witzig eine ihnen wesensfremde Sonnenbrille. Doch im August oder September scheinen auch die Schokoheiligen um Schutz zu flehen. Und weil ein sehr gutes Geschäft noch immer kein besonders gutes Geschäft ist, wird ein saisonal gebundenes Business wie der Weihnachtsrummel immer zeitiger vorverlegt. In den vollen Supermärkten und unseren leeren Köpfen.

 

Doch wohlgemerkt: Ich brauche im August, platziert neben der Campingabteilung im Supermarkt, eigentlich keine Marzipankugeln, um mich schon mal an Weihnachten ranzukuscheln. Was generiert unsere westliche Wertschöpfungskultur übers Jahr nur an künstlichen Ereignissen, Stimmungen und Erwartungshaltungen? Nur damit ein paar süße, sentimentale Gelüste am Köcheln gehalten oder hochgerüstet werden. Das Angebot regelt eben die Nachfrage, das windelweiche, leicht zu entlarvende Brimborium ist durchkalkuliert bis zehn Stellen hinterm Komma. Jahrzehntealte Künstlichkeiten wie etwa der tränenfeuchte Muttertag oder die bierseligen Spritztouren des Vater-, Herren- oder einfach Männertags sind meinetwegen jedem sein Wohlfühl-Ding. Ist ja in Ordnung, und jeder sollte seine Eltern ehren und dieselben angebrachterweise erfreuen das komplette Jahr hindurch. Aber der radikal uninspirierte Valentinstag etwa greift in alleiniger Absicht wie eine Fleurop- und Mon Cherie-Butterfahrt in Millionen Geldbeutel. Eigentlich sind das lediglich Bewegungsabläufe einer zupackenden Geldmaschinerie, einer freundlich lächelnden Krake, allenfalls noch Arbeitsplatzerhaltungs und –beschaffungsmaßnahmen - und keiner merkt's außer den schnurrenden Bilanzbuchhaltern der Konzerne  Mit authentisch gewachsenen Bedürfnissen haben diese Surrogate eines inszenierten Konsums um des Konsums willens doch rein gar nichts zu tun. Aber selbst die erlesene Konditoren-, Brauerei-und Floristik-Kultur ist halt nur die Kehrseite des schnöden Mammons. Aristoteles sprach stets vom Maßhalten. Das hat aber, weil wir doch menschlich sind durch und durch, noch nie so recht klappen wollen – zumindest im Sinne eines glücklichen und gelungenen Lebens. Und als irgendeine Sub-Maxime ähnlich dem "kategorischen Imperativ" taugt der goldene Mittelweg gleich gar nicht.

 

Demnächst hämmert Sylvester an die Lustbarkeiten-Tür und haut uns Abermillionen versengter Euros um die Ohren. Ungezählte, verzockte Knalltüten aus den Wurstfingern zockender Raketenmännlein fliegen eine halbe Mitternachtsstunde so erbarmungs- wie sinnlos ins schwarze, verstänkerte Nichts. Lassen wir doch dieses Jahr als Testballon für unseren doch mittlerweile erreichten Einsichts- und Reifegrad wenigstens Halloween, die unnötigste Eingebung der amerikanischen Selbstbespaßung, unter den Tisch fallen. Und wenn wir schon am Sparen sind, den Nikolaustag, den Valentins-, Mutter- und Vatertag gleich mit. Bevor wir im nächsten Jahr noch unbeugsamer mit Thanksgiving und Black Friday Partys malträtiert werden. Immer sind wir eingeladen, zahlen aber selbst.

 

Natürlich bin ich nicht der Antichrist, der im Vorweihnachtsland mit beseeltem Süßkram, Mistelzweigen, Konfetti und jeglichem vorfabriziertem Gefühlskitsch aufräumen will. Nur manche Pseudo-Feiertage sind lediglich neue oder neuerfundene Geschäftstage mit uns wochenlang zuvor eingetrichterten Öffnungszeiten. Bedürfnisse lassen sich sowohl beiläufig, als auch mit dem Holzhammer wecken oder erzeugen. Wie sehr sie rein kommerziell in Szene gesetzt werden, damit Werbeleute und Süßwarenfabriken bestens damit kassieren, denen diese zwischenmenschlichen Heimeligkeiten vollkommen Schnurz sind, das ist ein offenes Feier- und Betriebsgeheimnis.

 

Oder man gedenkt ganz privater Tage. Vielleicht ließe uns ein persönliches Momentum authentischer innehalten. Ich habe z.B. täglich das unglückliche Fischstäbchen im Sinn, als ein

 

Grundnahrungsmittel, das mir traurigerweise nicht vergönnt ist. Klingt abenteuerlich privat, aber das Fischstäbchen fungiert als Inbegriff des glücklichen Lebens. Tja, das hört sich jetzt erst recht sinnfrei hat. Vielleicht denke ich mit und durch das Fischstäbchen an eine gelungene Welt, das glückliche Leben, die große Liebe, aber auch die Vergeblichkeit allen Wollens. Aber nein, ich denke nur jeden Tag an die Kindheit, als jeder Tag schokoladig süß schmeckte wie Fischstäbchen und scheinbar keine Widersprüche am Horizont des unendlichen Sein auftauchten.

 

Hallo, notorische Marshmallow- und Halloween-Kiddies, klemmt euch also die halsabschneiderische "Süßes oder Saures"-Masche am 31. Oktober. Besucht doch an diesem Gedenktag die wahrhaft schöne "Neue Welt" zur gelehrten und lustigen Erbauung. Gerade dieser runde Reformationstag ist wichtig in Zwickau. Zur Jubiläums-Feier des großen Reformators haben uns und euch Ulf Firke und Holger Wettstein das Theaterstück "Luther in Zwigge – ein musikalisches Spectaculum" geschenkt. Um 16 und 19 Uhr. Viele Zwickau Promis zeigen ihr Bestes als Schauspielereleven. Kultur statt klebrige Finger!

 

Und wenn schon Jahrestage: Vom Ablasshandel kommt man ganz schnell zum "Europäischen Tag gegen den Menschenhandel". Der war am 18. Oktober. Und man gerät ins Nachdenken - Kultur statt blutige Finger …

 

 

 

 

 

KF

Diese Kolumne ist in verkürzter Form in der Freien Presse erschienen.