Was fehlt

Immer wieder aufs Neue pflegen wir mit hohem Anspruch oder leidlich leidenschaftslos fast jede, manchmal auch überflüssige Kulturproduktion und deren Konsum. Alle Lebensphänomene werden zur Kultur oder Gegenkultur erklärt bzw. stilisiert. Da hätten wir je nach Gusto Sprachkultur, Esskultur, Wohnkultur, Kultur der Sinne, Netzkultur, Alltagskultur … selbst Kleinstwesen haben ihre Kultur: Bakterienkultur.

 

Auch wenn es bei manchen "Kulturbanausen" nur bis zur Teppichgalerie, dem Besenmuseum oder einer Kakteen-Ausstellung reicht, kulturviert wird das Kulturverständnis zunächst ganz individuell. Jedes kulturell gesinnte Ego riskiert daher einen Kulturschock durch konkurrierende Kunst- und Kulturhorizonte. Gelegentlich zelebrieren Minderheiten eine spezifische Kultur, die es aber zu schützen gilt. Manchmal führen auch Kulturen gegeneinander Krieg. Oder Kulturlose legen gewissenlos Lunte – dann brennen Bücher, werden Kulturschaffende ins Gefängnis gesteckt und gefoltert. Kultur atmet Freiheit. Unkultur foltert.

 

Dort, wo man lebt, wünscht man sich in der Regel ein Übermaß an Kultur, die den Alltag, den Sonntag, das private und das öffentliche Leben bereichert. Wir sind in Zwickau eigentlich gut, ja überdurchschnittlich aufgestellt. Das weiß hier jeder kulturinteressierte Zeitgenosse. Doch es gibt veritable Lücken.

 

Wohin geht ein Jazzfan, wenn er regelmäßig erstklassige Konzerte hören möchte? Genau, nach Dresden, Leipzig oder New York. Es gibt vor Ort gerade zwei Institutionen, die auch international wichtige Kunst zeigen. Und überhaupt, warum leben hier keine avancierten Künstler wie Rosa Loy oder Hartwig und Wolfram Ebersbach? Es fehlen erstklassige, auf zeitgenössische hochkarätige Literatur spezialisierte Verlage und Buchhandlungen. Wo eröffnet ein Literaturcafé für ambitionierte Autoren? Was ist mit lebendiger Studentenkultur? Und überhaupt, wo agiert eine kulturelle Avantgarde? Wir bräuchten wieder eine große Kulturnacht oder ein überregional ausstrahlendes Kulturfestival, ein umfassendes Kulturnetzwerk. Oder eine permanente, unbürokratische Förderung von Kultur-Projekten durch die Stadt.

 

Wir suchen noch eine wahrnehmbare Phalanx an Kulturfans, die einfach mehr benötigen als Kultur light. Denn die gibt es hier zur Genüge. Ich meine nicht unbedingt Elitenkultur, aber schon Premiumqualität vor Ort. Wir sind doch keine anspruchslosen Geschöpfe herumhüfend in einer Petrischale, mit einer Bazillenkultur im Sinn und vor Augen.