Karteileichen ohne Amtsschimmel

Nie hatte ich ein Tagebuch. Wozu auch, hat entweder immer geregnet oder die Sonne schien. Oder das Leben geriet mir zu kompliziert, um es aufschreiben zu können oder wollen. Aber Dinge von wichtigerer Mach- und Wesensart festzuhalten, zu sichern, ist natürlich seit jeher ein Bestreben des Menschen, schlichtweg, weil es sein Überleben – sichert. Traditionen speichern Wissen, Geschichten ebenso, mündlich überliefert oder in dicken Folianten und 100-bändigen Lexika hinterlassen. Über die gesamte Menschheitsgeschichte wurde das jeweils zeitgenössische Wissen gesammelt, formatiert und weitergereicht. Wissen war aber früher stets den Eliten vorbehalten, Wissen ist Macht. Immer schwieriger, weil komplexer, geriet unterdessen das Bemühen, die Wissensmassen im Kopf zu stapeln, schnell gab es Spezialisten (auch für die Lücken) und im 18. Jahrhundert schlug das letzte Stündlein der Universalgelehrten, die so ziemlich jeden Schnipsel gelehrsam aufhoben und dadurch das damals bekannte Irdische und Kosmische begriffen. Dann uferte das Wissen endgültig aus, und dennoch oder gerade deshalb war der unwiderrufliche Abgang der sammelwütigen Enzyklopädisten angesagt. Die Welt, mitsamt unserem unverständlichen Universum, die Medizin, Geschichte, Kultur, die Naturwissenschaften gruben immer tiefer und fanden Unmengen an faszinierendem Zeugs, daß sich alle Wissenschaften nochmals in sich aufteilten. Nun notieren spezialisierte Spezialspezialisten in ihren Kämmerchen alles, was nicht niet- und nagelfest ist, was man bis dato erforscht und erkannt hat, zerlegen die Wissensklumpen und verstauen sie in unendlichen virtuellen Schubladenmonstern. Dabei sind sie entweder glücklich oder werden gegebenenfalls verrückt.

Alles Wissen, auch jede Trivialität und fast jede Verrücktheit werden nicht nur in (Online-)Bibliotheken als Bildungsgut aufbewahrt. Jedes Archiv ist ein realer Erinnerungsort, aktiver lokaler und lokalisierbarer Dienstleister.

 

Aber all das man in Kauf nehmen, genauso wie die experimentierende Evolution unsere Geschicke nach dem Motto "Versuch und Irrtum" lenkt, mit oder ohne Plan. Damit fürderhin nur das Wissen halbwegs nach Plan explodiert und nicht gleich die Welt dazu, muß man mit dem Aufbewahren und Strukturieren aller Erkenntnisse behutsam und clever umgehen. Und logischerweise sich dabei von den werten Nachgeborenen über die Schulter schauen lassen. Nicht nur Bibliotheken stellen Wissen und Bildung bereit, auch Archive. Klingt erstmal ein wenig trocken und verstaubt. Eines der bedeutendsten Archive der Menschheit ging leider in Flammen auf: die Bibliothek in Alexandria bewahrte das ganze Wissen des Altertums auf. Welche Erkenntnisse sind den nachfolgenden Jahrtausenden dadurch abhandengekommen, welche Schätze hätten unsere Geschichte und Bildung in eine vielleicht friedvollere Ereigniskette geführt …

Alles Wissen, auch jede Trivialität und fast jede Verrücktheit werden nicht nur in (Online-)Bibliotheken zu Bildungsgut aufbewahrt. Jedes Archiv ist Erinnerungsort und aktiver lokaler und lokalisierbarer Dienstleister…

 

… wo also kämen wir und die angesammelte Zwickauer Stadtgeschichte hin, wenn nicht in die Lessingstraße 1, wo Silva Teichert seit 30 Jahren, das, was in Zwickau geschieht und die Stadt im Innersten zusammenhält, magaziniert, seit 2000 als Amtsleiterin. Man muß zu ihr, will man wissen, was vor 333 oder 666 oder 999 Jahren in der Stadt passierte und auf 4,5 Km Archivgut zusammengezurrt ist. Zentral sind die Akten zur Bau-, Verwaltungs- und Stadtgeschichte, aber auch das Personenstandsregister. Wohlgemerkt, hier handelt es sich um Kulturgut, nicht um ein Altpapierlager. Auch wenn die Zu- und Aufwendungen ihrem Archiv gegenüber ausbaufähig wären, Silva Teichert ist stolz auf ihr (zu kleines) Team und freut sich, Beruf und Berufung verbinden zu können. Abwenden sollte man sich sicher nicht vom Gedanken (Vision?) eines Archivneubaus, in dem dann auch weitere, dringend nötige Arbeitsplätze geschaffen werden müssten.

Ob auch die mumifizierte Katze, die man vor ein paar Jahren hinter Regalwänden fand, noch als Karteileiche archiviert wird, möge jeder bei einem lohnenden Besuch im Archiv selbst herausfinden. Und keine Gefahr für die 4,5 laufenden Aktenkilometer: Ein ausgestopfter Amtsschimmel springt dort über nix und niemanden.